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    R e i s e b e r i c h t-S e i t e  9
 
 
 
M e n u e
 
 
 
   
 
   
�ber alle Berge - Eine Bolivianische Zeitreise
 
 
 
 

Das Einzige, was noch passabel aussieht sind unsere Lowa-Schuhe, die einfach nicht kleinzukriegen sind. Vor dem Felsen, unter dem auch die Zelte stehen, braust der Regen herab wie ein Wasserfall. Im Zelt macht sich Feuchtigkeit breit. Ich bin hundemüde und werde gut schlafen.

Am Morgen stelle ich fest, daß mein Clopapier aufgeweicht ist. Der Kaffee und die Kartoffeln sind alle, aber solange uns das Angelglück nicht verläßt, haben wir genug zu essen. Das Wetter sieht gut aus, die Wildwasser haben sich beruhigt. In kurzer Zeit erreichen wir den gestrigen Umkehrpunkt, dort machen wir weiter, wo wir am Tag zuvor aufhörten. Die Wegführung ist nicht leicht, es gilt, etliche schwierige Passagen zu meistern. Ein schlüpfriger Wasserfall versperrt uns den Weg, direkt unter unseren Füßen rauscht er eine 100 Meter hohe, senkrechte Wand hinunter. Wir schlagen Bambusrohre und sperriges Geäst, das wir als >Sicherung< vor den Felsabbruch werfen, bis der Astverhau uns stark genug erscheint, um den Sturz einer abrutschenden Person auffangen zu können. Keiner von uns hat große Lust, unsere primitive Sicherung auszuprobieren, wir ziehen es vor, nicht zu stürzen und schwindeln uns einzeln über die heikle Passage hinüber, wobei uns das weit von oben in freiem Fall herab rauschende Wasser eine ordentliche Dusche verpaßt. Erneut sind wir tropfnass, aber es ist heute so heiß, daß wir schnell wieder trocknen. Nach schwerer Schufterei in dichtem Wald gelangen wir in baumloses Gelände, in dem eine Art dichtes, sehr biegsames Schilf wächst, welches sich fast nicht mit den Messern durchschlagen läßt. Wir ersinnen eine brachiale Methode, um dem Schilf beizukommen: Einer springt hoch, ein anderer schiebt ihn zusätzlich von hinten an, er wirft sich von oben über die Vegetation und drückt sie mit dem Körpergewicht nach unten, die anderen steigen über ihn drüber und der nächste macht den >Rammbock<. Dazwischen wächst gottlob immer wieder >nur< dicker Bambus, den wir mit Macheten umhauen können. Nach drei Stunden unglaublicher Schinderei sind wir fix und fertig, jeder hat blutende Schrammen im Gesicht und wünscht sich nur eines: Endlich rauskommen in freies Gelände. Die letzten 300 Meter sind nochmal verdammt widerspenstig, doch dann sind wir draußen im Freien, in der Sonne. Wir rennen auf einem zugewachsenen Pfad, der uns nach dem harten Trip im Wald wie ein Weg vorkommt, hinunter zum Rio Llipichi, wo wir uns in einer seichten Höhle einen wunderschönen Zeltplatz herrichten.

 
 
 
 
Die seichte Höhle vom Rio Llipichi. Wir nutzen sie um in ihr ein Feuer zu entfachen, auf dem wir uns einen Tee zubereiten. Außerdem trocknen wir hier auch unsere feuchte Kleidung.
 
 
 

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit entfachen wir ein Lagerfeuer, um die Mücken in Schach zu halten. Der wunderschöne Zeltplatz liegt direkt am Fluß und ist umgeben von steilen, dicht bewaldeten Hängen. In der Dunkelheit geht ein Licht an, dann erlischt es wieder: Ein Glühwürmchen blinkt mit seiner Taschenlampe. Plötzlich die Antwort von hunderttausenden von Lichtern: Der ganze Wald flackert, als wären die Sterne des Himmels hineingefallen. Und inmitten dieser gewaltigen Freilichtbühne sitze ich und staune - atemlos. Der Monte ist das Paradies auf Erden - und die Hölle. Man muß ihn hassen und lieben.

Die Estancia Kattuaya, Außenposten der Zivilisation

Den folgenden Tag marschieren wir durch lichteren Monte, der uns nicht mehr das letzte abfordert, wir queren etliche Bäche, in denen wir unseren Durst stillen können, die Macheten gebrauchen wir nur noch selten. Nach Tagesmitte ermöglicht uns ein halb zugewachsener Trampelpfad aufrecht zu gehen. Paolino und ich hören hoch oben im Geäst einen Chorro-Affen schnattern, bevor wir ihn sehen können wirft er uns erschrocken eine angeknabberte Frucht vor die Füße und haut ab. Hier wird gejagt, deshalb das Mißtrauen! Bald werden wir Menschen treffen, Neuigkeiten erfahren, andere Gesichter sehen. Wir sind richtig aufgeregt.

 
  Ein wunderschöner Schmarotzer. Eine Epiphyte besiedelt einen alten Ast.
 
 
 
 
 
 
Grüne Hölle oder Paradies? Unbekannte Blütenpracht in den Tiefen des Waldes.
 
 
 

Dreißig Minuten später bestaune ich einen hohen, in Reih und Glied gepflanzten Bambuswald. In der Wildnis wächst alles scheinbar zufällig durcheinander, jede von Menschenhand geschaffene Ordnung fällt dem sensibel gewordenen Auge sofort auf. Gleich hinter dem Bambus betreten wir eine Bananenpflanzung und sehen eine von Moskitos umschwärmte Muttersau mit drei Ferkeln. Wir sind in Kattuaya, einer kleinen Farm am Waldrand. Die 70-jährige Frau Yanaguaya begrüßt uns ohne Furcht, sie kennt mich. Ihr Sohn José ist zum Arbeiten in die weit entfernte Goldmine Loricani gegangen. Außer der alten Frau und ihrem 19-jährigen Sohn wohnt hier niemand. Für einen jungen Burschen wie José, der auf Kattuaya lebt wie Robinson, muß Loricani schlimm sein. Aber Gold zu schürfen ist für ihn und viele andere die einzige Möglichkeit, sich Geld zu verdienen, Fluch und Segen in einem. Ohne daß sie mich darum bittet drücke ich der kleinen, alten Frau 20 Bolivianos in die riesigen verarbeiteten Bratpfannenhände. Mit wieselflinkem Raubtierblick blitzen mich ihre braunen Mandelaugen an, ein kurzes, überraschtes Lächeln huscht über ihr Gesicht. >Für die Benutzung deiner Wege.<, erkläre ich ihr meine Geldspende, die wirklich kein großes Opfer für mich ist. Mit einer Flinkheit, die man einer alten Frau nicht zutraut, verschwindet sie im Haus und kommt mit einer großen Schüssel voll Obst und sättigenden Valusa-Wurzeln heraus, die sie wortlos vor uns hinstellt. Wir schlagen uns den Bauch voll bis wir nicht mehr können.

 
  Der Autor mit Paulinho und Braulio in Kattuaya, einer winzigen, sich selbst versorgenden Farm im Outback Boliviens.
 
 
 
 
 
 
Hier in Kattuaya wachsen unter anderem Bananen, die, wie auch andere Pflanzen, der Selbstversorgung dienen.
 
 
 

Von Frau Yanaguaya erfahren wir, daß von dem Goldgräberort Chussi wegen mangelnder Ergiebigkeit der Minen keine regelmäßigen Jeepkonvois mehr in die Minenmetropole Guanay fahren. Der einzige sichere Transport sei Sonntags um acht Uhr morgens. Wir rechnen nach, Sonntag, ist das nicht morgen? Ja, tatsächlich. Nach Chussi habe ich von Kattuaya aus noch zwei Tage gemütliche Gehzeit veranschlagt. Ich entschließe mich kurzerhand zu einem nächtlichen Sprint, über 80 Kilometer, um den Jeep nicht zu verpassen.

 
  Wir essen was reingeht.
 
 
 
 

Nächtlicher Gewaltmarsch nach Chussi

Frau Yanaguaya bekocht uns wie eine Mutter, ganz offensichtlich hat sie große Freude an unserem unersättlichen Hunger. Beiläufig erwähnt sie, daß ihr der Sohn doch recht fehlt, er ist bereits zwei Monate fort. Sie muß sehr einsam sein.

Um 21:00 Uhr verabschiede ich mich von Juan-Carlos und Braulio, die auf Kattuaya zurückbleiben werden und krieche mit Paolino ins Einmannzelt, um schnell noch ein bißchen zu schlafen. Um 23:30 Uhr reißt mich der Wecker hoch, momentan weiß ich nicht, wo ich bin, ich habe geträumt. Die Habseligkeiten sind schnell verpackt, zu Frühstücken brauchen wir nicht, weil wir erst vor zweieinhalb Stunden zu Abend gegessen haben. Wir betrachten den vollgesichtigen Mond, der silbriges Licht auf die Bananenpflanzung giesst. Nachtwind lebt auf und eine Prozession weißer Wolken, schnell wie große, schneeweiße Vögel, verdunkeln bald das Gesicht des Mondes, bald lassen sie ihn zauberhaft hell erscheinen. Die schnell dahinziehenden Wolken erwecken den Eindruck, als würde der Mond selbst über die Baumkronen gleiten. >Laß uns gehen!<, mahne ich Paolino zur Eile, wir setzen uns in Bewegung.

Zunächst steckt mir der lange, gestrige Tag in den schweren Beinen, doch sobald sie warm sind, ist die Müdigkeit verflogen. Wir trotten in schneller Schrittfolge einen steilen Hang hinauf, bald perlt Schweiß auf der Stirn. Über die Pforte eines von den Yanaguaya’s freigehackten Tunnels betreten wir erneut den Wald, in den das Mondlicht nicht eindringt. Es ist so dunkel, daß wir Pflanzen nicht von Bäumen und Steinen unterscheiden können. Man sieht nichts, was nicht direkt vom begrenzten Lichtstrahl der Taschenlampe erleuchtet ist: Stundenlang bewegen wir uns in einem kleinen, engen Lichttunnel, dessen schwarze Wände sich ständig nach vorne ausdehnen und hinter uns wieder schließen. Der begrenzte innere Tunnel wird durch den äußeren Vegetationstunnel erneut begrenzt - ein Universum im Universum. Wir steigen vom Äußeren ins Innere, vom Inneren ins Innerste Innere einer anderen Realität. Hinter mir spüre ich Paolino’s schweren Atem, wir sprechen nichts. Die Nacht reduziert die Außenwelt auf ein Minimum, wir sind völlig für uns selbst und ich bewege mich gedanklich so weit weg, wie zu keinem anderen Zeitpunkt der ganzen Reise. Plötzlich entdecken wir silbernes Licht am Ende des Tunnels, unvermittelt gelangen wir von der mikroskopischen Buschwelt hinaus ins freie Grasland. Ein anderer Spiegel der Seele öffnet sich und reflektiert Eindrücke: Ein weiter, freier Blick, getaucht in silbernes Mondlicht. Wir trotten eine Stunde oder drei bis der Pfad von Kattuaya auf den >Weg des Goldes< trifft. Schwarze Wolken rotten sich zusammen, um den Mond einzuschüchtern. Einen Augenblick lang stehen sich Wolken und Mond direkt gegenüber, dann schieben sich die Wolken vor den Mond, es wird mit einem Schlag dunkel.

Wir lassen uns dadurch nicht aufhalten, auf dem relativ guten Weg des Goldes, der nach Chussi führt, können wir das Tempo sogar noch forcieren. Die Nacht hat einen großen Vorteil: Es ist nicht so heiß wie tagsüber. Wir passieren die Mine La Hoya, die Brücke über einen Seitenfluss wurde weggeschwemmt und nicht ersetzt - ein Zeichen dafür, daß die Mine kaum Gold fördert. Der Bergbau in Bolivien stagniert, viele Schürfer werden arbeitslos - nicht nur in La Hoya. Auch mein Begleiter Paolino ist ein arbeitsloser Goldgräber, der sich um die Zukunft sorgt.

Hinter einer Wegbiegung finden wir ein provisorisches Plastikplanenzelt mit zwei schnarchenden Schläfern, an den Bäumen haben sie zwei Kühe angebunden. Wir nähern uns harmlos pfeifend, um niemanden zu erschrecken. Wie von einem tollwütigen Hund gebissen fährt der erste hoch, entsetzt schreit er, >Scheisse!<. >Verdammt was ist los, verflucht, was passiert denn hier?<, wacht jetzt auch der andere auf. In ihrer heillosen Panik verfangen sie sich in der Plane wie in einem Spinnennetz. Schnell können wir sie davon überzeugen, daß wir keine mordenden Viehdiebe, sondern harmlose Wanderer sind. Sich mitten auf einem durchaus auch nachts begangenen Weg zu legen ist selten dämlich, noch dazu mit zwei wertvollen Kühen. Die Kühe sind für Chussi bestimmt, wo sie nach ihrer Ankunft geschlachtet werden, um den Fleischbedarf der Goldgräber zu decken. Solche Viehtriebe, große wie kleine, gibt es viele, die Goldgräber haben Geld - solange sie etwas finden!

 
 
 
 
Wir haben es fast geschafft: Morgenrot vor erreichen von Chussi.
 
 
 

Chussi bedeutet Menschen, Elektrizität, leichte Mädchen - Die Annehmlichkeiten der Zivilisation. Aber Jeep ist keiner da! Am folgenden Tag hat mich Paolino mit anderem Ziel verlassen, ich sitze in Chussi fest. Naja, es läßt sich hier aushalten. Wenn du etwas lernst in Bolivien, dann ist es Geduld.

 
  Die belebte Hauptstraße von Chussi.
 
 
 
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Letzte Aktualisierung: 18.01.06
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