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Dritter
Tag
Morgens um 6:00
Uhr stehen wir auf und bereiten uns über einem Feuerchen etwas
Kakao, um uns aufzuwärmen. Zum Frühstück gibt es
Kaniawa und ein halbes Maisbrot, mehr haben wir nicht. Ganz in der
Nähe grölt ein Schwarzbär seinen Morgengruß
in den Nebel - aus den Tiefen des Waldes kommt mehrmals die Antwort.
Wir sind zwar nur mit einer Machete bewaffnet, womit du bei ausgewachsenen
Bären nichts ausrichten kannst, aber wenn man sie nicht provoziert
lassen einen Wildtiere für gewöhnlich in Ruhe, zu zweit
sollte man aber schon sein. Ich besitze zwar ein Gewehr und nehme
es auf geruhsameren Expeditionen gerne mit, diesmal war es mir jedoch
zu schwer. Bei Tagesanbruch ist die Nebeldecke weit nach unten gewandert,
dicke Tautropfen hängen im Gebüsch und im Hintergrund
glühen Gletschergebirge in der Morgensonne rosa auf. Das von
der Sonne gestreifte Nebelmeer verfärbt sich lachsfarben und
wogt brodelnd auf und ab wie in einem riesigen Siedekessel. Die
Rucksäcke sind schnell gepackt und kurz nach unserem Aufbruch
balancieren wir über steile Granitstufen abwärts. Wie
haben in grauer Vorzeit Zwangsarbeiter große Granitstufen
hierher geschleppt? Es kommt in dieser Gegend bis hinauf ins Gebirge
nirgends Granit vor, demnach musste das Baumaterial von weither
gekommen sein. Wie das bewerkstelligt wurde vermag kein noch lebender
Mensch zu sagen, diejenigen die es einmal wussten sind schon viele
hundert Jahre tot. Unzählige Generationen von Benutzern drückten
die Stufen durch ihr Gewicht und das der Tragtiere nach und nach
über drei Meter tief in den Boden, dort, wo der Weg jetzt von
Vegetation überdacht wird, hat er das Aussehen eines Tunnels.
Bevor wir durch die halbdunklen Gänge laufen versichern wir
uns gewissenhaft davon, dass wir keinen Bären erschrecken,
der es sich dort drinnen gemütlich gemacht haben könnte.
Unbewaffnet wie wir sind ist es nicht ratsam, sich mit irgendeinem
wehrhaften Waldbewohner anzulegen. In welche im Urwald versunkene
Stadt mag der Weg einst geführt haben und wohin sind ihre Bewohner
verschwunden? Daran erinnert sich niemand mehr, es gibt nicht den
Hauch einer Andeutung, nur der große Geist der Wälder
kennt die Antwort und schweigt. Heute führt der gut ausgebaute
und streckenweise einfach verschwundene Weg eigentlich nirgends
mehr hin, das Ziel gibt es nicht mehr. Für uns ist er sehr
hilfreich. >>Meine armen Vorfahren<<
ruft Jose ein ums andere Mal in tiefer Bestürzung aus, er weiß,
dass die Zwangsarbeiter einst seine eigenen Vorfahren, Aymaras,
gewesen sein müssen, welche der Herrscherklasse der Inkas nach
verheerenden Niederlagen in grausamen Kriegen hatten dienen müssen.
Wir haben beide schon ähnliche Wege gesehen, aber keiner war
auch nur annähernd so beeindruckend wie dieser. Der gestrige
Regen hat die Stufen schlüpfrig gemacht und wir müssen
stets aufpassen, dass wir nicht ausrutschen und es uns nicht auf
die Schnauze haut. Dennoch kommen wir schnell tiefer. Ab und zu
passieren wir Lichtungen im dichten Gehölz, von denen wir weit
hinein in nicht enden wollende dicht bewaldete Täler blicken
können, aus denen jetzt der Nebel verschwunden ist. Soweit
das Auge reicht kein Zeichen menschlicher Anwesenheit. Irgendwo
verlieren sich die Granitstufen wieder, aber der Weg ist frei von
Vegetation und deshalb gut begehbar. Der trockene Waldboden federt
unter den Schritten, doch manchmal waten wir durch knöcheltiefen
Schlamm, der sich schmatzend an den Schuhen festsaugt. Es ist heiß
geworden Von den seltener werdenden Aussichtspunkten aus sehen wir
nur noch Bäume. Die undurchdringlichen Baumkronen riesiger
Urwaldbäume verbergen alles, was sich unter ihnen befindet,
das erschwert die Orientierung zunehmend. Wir müssen nun auf
Schlangen Acht geben, für den Führenden ist das ziemlich
anstrengend, weshalb wir uns öfter vorne abwechseln. In den
Bäumen krächzen Papageien, manchmal zeigen sich wunderschön
bunt schillernde Paradiesvögel, die fern vom Menschen dessen
Niedertracht nicht kennen und deshalb nicht an Flucht denken. Wir
schrecken einen seltsamen perlhuhngroßen Vogel mit Stummelflügeln
auf, der nicht fliegen, dafür aber umso schneller rennen kann
und blitzschnell im Dickicht verschwindet. Du meine Güte, vorgestern
froren wir noch im Neuschnee der Anden, was für ein Gegensatz!.
Jose und ich reden wenig, wir brauchen die Luft zum schnellen Gehen
während um uns herum Pflanzen und Bäume wuchern wie in
einer sich ausbreitenden Explosion in grün, die sich einen
eigenen Kosmos geschaffen hat. Wir kommen an einem durch Farbstoffe
herabgefallenen Blattwerks rötlich gefärbten Bach vorbei,
ein schöner Platz für unsere längst fällige
Mittagsrast. Hier essen wir Kaniawabrei und die letzten Maisbrötchen.
Nach einer halben Stunde Rast traben wir weiter und gelangen zu
einer tiefen Schlucht, über die eine alte Holzbrücke führt,
die Zweifel an deren Gangbarkeit aufkommen lässt. 120 Meter
tiefer, im Grund der senkrechten Felsenschlucht, tost ein brausendes
Wildwasser. Wir inspizieren die Brücke gründlich und erst
nachdem wir davon überzeugt sind, dass sie trägt, wagen
wir uns einzeln hinüber auf die andere Seite. Die Brücke
ist ein Schwachpunkt des Weges. Sollte ich hier später einmal
mit Touristen vorbeikommen, dann muss die Brücke Maultiere
aushalten, welche Lasten tragen. >>Motorsäge
mitnehmen - Brücke ausbessern<<
schreibe ich deshalb unter Notizen über die Lage von Lagerplätzen,
Wasserstellen und Tagesetappen. Auf diese Notizen kann ich später
mal zurückgreifen, wenn ich sie brauchen sollte. Es geht wieder
weiter durch tiefen Wald. Ein steiler Anstieg presst jetzt, es ist
nun schon der dritte strenge Marschtag, alle Kraft aus den Beinen
und wir werden langsamer. Ziemlich außer Atem erreichen wir
das Ende der Steigung, wo sich der Wald schlagartig lichtet. Bald
darauf löst ein mit hohem Hiuchu-Gras bewachsener Hang, in
den erbarmungslos die Sonne knallt, den Wald ab. Wir gehen und schwitzen,
schwitzen und gehen. Das ewige auf und ab in einer den Willen lähmenden
Hitze ist zermürbend. Schon ist die Dunkelheit nicht mehr fern,
da stoßen wir hinter einer Wegbiegung völlig unerwartet
auf Hütten. Wie monströse Insekten ragt das Plamstroh
der waldgeborenen Häuser aus dem Boden - das muss Mojos sein!
Es wurde uns als mindestens so groß wie Pelechuco geschildert,
doch mehr als 40 Menschen leben hier auf keinen Fall. Wir betreten
das Dorf und nähern uns dem Marktplatz, welcher an dem ebenen
Rasen vor einem auffällig langen Gebäude zu erkennen ist.
Ein paar Männer mit nacktem Oberkörper stampfen Lehmwände
für eine neue Behausung, sie sehen uns sofort, reagieren aber
nicht. Wir setzen uns in respektvoller Entfernung in den Schatten
einer Hauswand, wo wir Schuhe und Socken ausziehen. Dann warten
wir ab. Für Fremde gilt es als unschicklich, direkt auf einen
Einheimischen, einen >>Lugareno<<,
zuzugehen und ihn brutal indiskret auszufragen. In Europa hat man
heutzutage keine Zeit mehr für Sentimentalitäten und derlei
aufwendiges Benehmen wird in gegenseitigem Einvernehmen >>gespart<<.
Wir müssen jedoch warten, bis sie, die hier das Heimrecht haben,
zu uns herüberkommen. Dazu haben wir alle Zeit der Welt. Ein
paar Kinder tollen um uns herum. Sie sind auffällig hell, haben
wohlgeformte Körper und markante Gesichtszüge. Schließlich
machen die Männer Feierabend und kommen zu uns herüber.
Zuerst stellen sie Fragen und wir antworten. Dann erst dürfen
wir sie ausfragen. Nach dieser Begrüßung, in der beide
Seiten einander vorsichtig abtasten, entsteht ein entspannter Dialog,
die Leute von Mojos haben uns in einer sehr ruhigen und freundlichen
Art aufgenommen. Mit stolzer Geste weist man uns einen Zeltplatz
in der Mitte des Dorfes zu. Wo die Fahrstraße ist, wollen
wir wissen. Zuerst versteht uns niemand so recht, doch dann lachen
alle: Es gibt keine Straße, man hat uns falsch beraten. >>Der
Fußweg nach Tuichi ist schlecht und renovierungsbedürftig,
jedoch einwandfrei passierbar. Es ist aber ein verdammt weiter Weg<<
erfahren wir vom Bürgermeister. Ich richte einem Juan Lambramani
Grüße von Geronimo aus Calestia aus, dieser will in etwa
einer Woche mit seinen Maultieren fünf Quintales Reis und ein
paar andere Dinge abholen, die ich von meinem Notizblock ablese.
Juan soll derweilen schon mal den Reis entspelzen und alles herrichten.
>>Wie könnte ich mit einer Touristengruppe
und Gepäck von Mojos fortkommen?<<
will ich wissen. Alle anwesenden Männer von Mojos bieten sich
sofort als Träger an. Wir fragen nach einem Führer für
den morgigen Tag. Ein Junge, erst 18 Jahre alt, aber von kräftiger
Statur, will den Job übernehmen. Ein Familienoberhaupt sagt
seiner Frau bescheid, dass sie zwei zusätzliche Abendessen
für uns herrichten soll. Nach unserer Kaniawa Diät sind
wir sehr hungrig und nehmen die Einladung mit Freuden an. Es wird
ein herrliches Festessen im Kreis der zehn-köpfigen Familie,
auf dem wir große Mengen von Reis, Mais, Kochbananen, Maniok
und Eiern, alles frische Produkte aus dem sich vollständig
selbst versorgenden Dorf, verdrücken. Der späte Nachmittag
geht in den Abend über, die Nacht bricht herein. Die Ereignisse
des Tages verschwimmen. Man hat das Gefühl, welches ein Traum
hinterlässt oder eine Geschichte, die einem ein anderer erzählt
hat. Später liege ich mit Jose und ein paar Dörflern im
kurzen Gras vor unserem Zelt und betrachte den Nachthimmel, über
den Milliarden von Sternen schwimmen wie vergossene Milch. Es ist
warm und still. Hier kann ich meinen Traum leben. Oder mein Leben
träumen. In einer Welt jenseits der Tore, in der ein Mensch
die Freiheit hat, das zu tun, was er will, einem Ort ungebundener
Wahlfreiheit. Hier kann jeder aufstehen und gehen, ohne um Erlaubnis
zu bitten, ohne Gefangener einer Institution zu sein. Die Entdeckung
an sich ist durchaus einfach, aber im 21en Jahrhundert stellt sie
für die westliche Welt eine solche Beleidigung dar, dass sie
pervers erscheint: Der Wunsch, im Rhythmus der Natur zu leben und
den Sternen zuzusehen. Nicht zu wissen, was man tut - und es trotzdem
richtig machen. Es gibt schlimmere Dinge, als für pervers gehalten
zu werden. Diese Gedanken nehme ich mit in meinen Schlafsack und
schlafe mit ihnen ein. |